Die unbestimmten Krankheiten und die "krankmachende Haltung"

Aus Gefangenenratgeber

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14.1. Die unbestimmten Krankheiten und die krankmachende Haltung

Oft lässt sich zunächst keine organische Erkrankung feststellen, oder die organische Erkrankung, z.B. im Unterleib, scheint von einem Organ zum anderen zu wandern. Die Krankheitsanzeichen werden von den Gefangenen selbst nach dem üblichen medizinischen Muster gedeutet, z.B. als „Kreislaufstörung". Es wäre die Krankheitserforschung durch einen Psychoanalytiker nötig, um zu erfahren, weiche Beziehung z.B. zwischen der selbst wahrgenommenen „Kreislaufstörung" und dem „Kreislauf" des Hofgangs bestehen kann. Krankheitsbezeichnungen, die von den Gefangenen aufgenommen werden, scheinen oft eine sinnbildliche Bedeutung zu haben, sowohl bei der Wahl, die der Körper in Bezug auf eine Krankheit trifft, wie bei der Bezeichnung, die der Verstand dafür findet. Zwischen „Es geht mir schlecht" und „Mir ist schlecht" gibt es eine Beziehung, von der wir wenig wissen.

Einige Beobachtungen

Hier sollen einige Beobachtungen beschrieben werden, die verdeutlichen, wie eine krankmachende Haltung krank machen kann und welche doppeldeutige Rolle die Anstaltsmedizin dabei spielt.

Die erste Beobachtung:

Ein Gefangener, der neun Monate inhaftiert ist, unter denselben Bedingungen wie ich, also innerhalb des Gefängnisses nicht isoliert. Er klagt über dauernde starke Kopfschmerzen, migräneartig - ein starker Druck um die Schläfen. Er kann sich nicht mehr konzentrieren. Ein Buch zu lesen ist ihm unmöglich geworden - schon seit drei, vier Monaten gelingt ihm das nicht mehr, das Lesen hat er deswegen ganz aufgegeben. Er spricht nur flüsternd, „nuschelnd" und verwirrt. Manchmal versteht man ihn nicht. Er sagt, er kann nicht mehr lauter reden, er sei zu aufgeregt, die Kehle ist ihm zugeschnürt. Bei der Gerichtsverhandlung war er derart aufgeregt, dass er kein Wort herausbrachte. Die Verhandlung musste ausgesetzt werden. Sein Pulsschlag war bei der Verhandlung auf 130. Er zitterte und hatte Schweißausbrüche. Er konnte nicht stehen, nicht reden, verstand kaum etwas von dem, was vorging. Er sagt, die Gedanken würden sich ihm verwirren, er könne nichts mehr aufnehmen. Er „faselt" assoziativ, in Sängen Pausen.

Eine weitere Beobachtung:

Der tschechische Gefangene L. - im Mai 1976 inhaftiert im Gefängnis von Butzbach - ist seit drei Jahren in Gefangenschaft. Er war zwei Jahre in Untersuchungshaft im Gefängnis von Darmstadt. Nach zwei Jahren war er zusammengebrochen. Er hatte einen Anfall mit Symptomen eines Herzinfarkts: er bekam keine Luft mehr, ein schmerzhaftes Herzpochen, Todesangst. Man sagte ihm: Das ist die U-Haft, dagegen haben wir keine Pillen! Er bekam diesen Anfall noch mehrere Male. Sein Zustand besserte sich aber immer, wenn er das Fenster öffnete und frische Luft einatmete. Er kam ins Grübeln über seine Anfälle. Er machte Experimente, durch die er sich zu erklären versuchte, woher diese Zustände kämen. Zum Beispiel legte er sich im ersten Moment eines neuen Anfalls ein feuchtes Handtuch übers Gesicht, und dabei merkte er, dass der Anfall sofort nachließ. Durch die misstrauisch beobachteten Anzeichen in seiner Umgebung, die er sich nicht anders erklären konnte, kam er auf den Gedanken, dass man ihn mit Gas foltern würde. Möglicherweise hat sich dieser Gedanke erst in einem langen Prozess der Gewöhnung bei ihm festgesetzt.

Dritte Beobachtung:

Ich kenne W. seit 1976, seitdem er hier im Untersuchungsgefängnis in Frankfurt-Preungesheim ist. Seitdem war ich die meiste Zeit mit ihm auf derselben Station zusammen und kann die Entwicklung seines Gesundheitszustandes beurteilen. In den ersten Monaten hatte er offenbar keine Beschwerden. Ich habe den Eindruck, dass er seit dieser ersten Zeit sich verändert hat; seine frühere aggressive Grundstimmung ist einer depressiven Grundstimmung gewichen: er redet weniger, meistens in deprimiertem Ton und meistens über seinen physischen Zustand, über die Schmerzen, die er hat usw. Offenbar hat er Schmerzen an der Galle, am Magen und unter Umständen auch ein mit der Blutzirkulation zusammenhängendes Leiden - jedenfalls vermutet er das, und ich habe keinen Grund, an seinen Angaben zu zweifeln, weil es mir nach 19 Monaten Haft ähnlich schlecht ergeht. Dass selbst bei jungen Menschen hier herzinfarktähnliche Zustände auftreten, habe ich hier mehrmals beobachtet. Die Haft stört bereits nach einigen Monaten das psychophysische Gleichgewicht soweit, dass sich fast bei jeder und jedem Gefangenen, oft in rascher Aufeinanderfolge, Symptome entwickeln, die schwer heilbar sind und sich durch Medikamentenbehandlung vermutlich nur verschieben. Wegen der dauernden Schmerzen und der inzwischen wirklichen Krankheit halte ich W. nicht für haftfähig. Seine Krankheit ist durch die Haft verursacht, genauso wie der ähnlich elende Zustand anderer hier. Im Unterschied zu anderen, die ihre Symptome besser beherrschen, ist W. aber offenbar in einer tatsächlichen Gefahr, wenn man ihn nur mit Medikamenten behandelt und den Prozess, der seine Symptome verursacht, nicht versteht. Die sture Verabreichung von Medikamenten, wie sie hier betrieben wird, erzeugt außerdem Drogenabhängigkeit und, weil die Behandlung nur ein routinehaftes Abspeisen mit Medizinen ist, unvorhergesehene physische Nebenwirkungen.

Deshalb habe ich für W. (und nach seinen Vorstellungen) einen Antrag auf eine psychotherapeutische Begutachtung geschrieben. Diese soll auch feststellen, ob eine Behandlung im Gefängnis möglich ist. Soviel ich die Zustände im Gefängniskrankenhaus in Kassel, wo es auch eine neurologische Abteilung gibt, kenne, ist sie dort nicht möglich. Das Gefängniskrankenhaus ist gefürchtet. Kranke weigern sich, dorthin gebracht zu werden. Der Leiter dieses Krankenhauses ist durch eine ganze Kolonne unaufgeklärter Todesfälle und durch Zwangsbehandlung und Zwangsernährung bekannt geworden. Die Blinddarmoperationen, die man dort verabfolgt, hinterlassen Nähte, die sich über den ganzen Bauch ziehen. Die Behandlung psychischer Symptome wird mit Medikamenten versucht. Es ist anzunehmen, dass die neurologische Abteilung dieses Krankenhauses nur in einem Punkt Erfolge erzielt, nämlich in der Anpassung von Gefangenen an bestimmte Krankheiten, die sie dann tatsächlich bekommen. In Wirklichkeit ist dieses Krankenhaus nur eine medizinische Verwaltung. Mit seinem Vorhandensein soll es den Haftrichter_innen erspart werden, Gefangene wegen der ihnen beigebrachten Schäden aus dem Gefängnis entlassen zu müssen. Im Fall von W. beweist sich, welche Verletzungen man einer/einem Gefangenen beibringen kann, ohne ihn zu prügeln oder zu foltern und ohne dass es dafür einen einzelnen Verantwortlichen gibt, da niemand ihm diese Verletzungen durch eigene, selbst überblickte Handlungen zugefügt hat. Trotzdem ist es eine zugefügte Verletzung, da es unmöglich ist, die Bedingungen hier gesund zu überstehen. Als einzige Alternative zu einer Haftverschonung und ambulanten Behandlung würde ich eine Selbstaufklärung und Selbstbehandlung sehen. Dazu müsste hier eine Selbstbehandlungsgruppe zugelassen werden. Dass sie von der Leitung dieses Gefängnisses zugelassen wird, ist unwahrscheinlich, denn zwar nicht ihren Erklärungen, aber ihren Taten nach können wir ihr nicht krank genug werden. Es ist schon immer hier praktiziert worden, durch physischen Zwang, durch Entzug von Bewegung, Luft, Kommunikation, die Prozesse fördern zu helfen. . . Es ist also nicht zu erwarten, dass eine solche Selbstaufklärungsgruppe, die auch einen Angriff auf die Anstaltsärzte bedeutet, zugelassen wird. Im gegenwärtigen Moment jedenfalls nicht. Eine Behandlung durch den Psycholog_innen, der nach meiner Information hier nur einen bestimmten Zwischenraum seiner Ausbildung selbst und an anderen Gefangenen gehen solche Symptome, wie sie sich her W. finden, auf eine spezifische Situation zurück, die man als den Mangel an Solidari­tät umschreiben kann. Die Solidarität ist das einzige, was eine_n Gefangene_n vom Wahnsinn trennt. Ohne sie bedroht ihn alles. Deshalb kann auch im medizinischen Sinn im Gefängnis nur eine gegenseitige und nicht eine von anonymen Funktionä­ren durchgeführte Behandlung Erfolg haben.

Die „krankmachende Haltung"

Diese Beobachtungen zeigen auch, welche Bedeutung die Selbsterfahrung und Selbsteinschätzung eines Menschen für die Art und Weise seines Krankwerdens haben. Dies kann man auch als „krankmachende Haltung" bezeichnen. Wobei gerade die Enge und der Zwang im Knast das Denken und Fühlen des Gefangenen auf die eigenen Körperfunktionen bzw. das Nicht-funktionieren beschränken. Krankmachende Haltungen lassen sich aber nicht leicht korrigieren. Wenn man aber ihre Bedeutung erkennt, sich ihrer zerstörerischen Funktion bewusst wird, kann man mit der Krankheit umgehen und ein positives Verhältnis zu ihr bekommen. Die krankmachende Haltung verflüchtigt sich wie Wasser bei Hitze, wenn ihr negativer, gegen deine Person gerichteter Sinn bewusst wird, wenn du mit ihr umgehen kannst. Das bedeutet: nicht nur deine körperlichen Funktionen musst du halbwegs kennen, um sie - z.B. durch Gymnastik - erhalten zu können, sondern genauso wichtig ist auch, deine unbewussten, krankmachenden Haltungen zu kennen - was zugleich bedeuten kann, sie aufzulösen, sich von ihnen zu befreien, ohne Medizin gesund zu bleiben. Der folgende Text ist ein Erfahrungsbericht eines Gefangenen.

Das Leiden orientiert sich an der Medizin

Die unbestimmbaren Krankheiten, also die sogenannten Haftsyndrome, die keinem bekannten Krankheitsbild zuzuordnen sind, weil sie sich zwischen den Krankheitsbildern unentschieden hin- und herbewegen, können als Versuche des Unbewussten gedeutet werden, einem Modell von Krankheit, das die Medizin dem Kranken durch ihre Begriffe, durch ihre „Geographie" eines kranken Körpers bietet, ähnlich zu werden, sich an ihm zu orientieren, ihm zu entsprechen und sich durch eine solche Entsprechung als etwas auszuweisen, was der Zuwendung durch andere bedarf, wenn sie schon nicht anders zu erhalten ist. Ein gesellschaftliches Befinden sucht also nach den angemessenen, ernstgenommenen, tolerierten Formen des Ausdrucks von Leiden - einer Krankheit, während andere Formen des Ausdrucks von Leiden verschlossen bleiben, weil sie entweder mit Strafen verbunden sind oder mit dem Etikett der „Schwäche", der Lächerlichkeit, der Verachtung. Kranksein darf dagegen auch die/der Stärkste. Das Unbewusste trifft eine Auswahl unter den Krankheitsbildern nach dem Vorbild der Medizin, die eine Gesamtheit des Befindens in ihre eigene Sprache, die Sprache der Symptome, der Nerven, Schmerzen, des Herzrhythmus, der Diagramme des EKG, umsetzt, um die vereinzelten, von dem Leiden eines Menschen losgerissenen Symptome beherrschen zu können. Krankheiten in diesem Sinn sind also Angebote an die Medizin, Versuche des Dialogs auf einem Gebiet, das noch sprachlos und unbewusst ist und das Eingehen auf die Sprache der Symptome. Auf diese Weise kann sich die Kommunikation des Kranken mit der Medizin entfalten, weil es keine andere Weise der Kommunikation für ihn gibt. Die Niedergeschlagenheit des Zustands des Gefangenseins spricht in der „Depression", in der Gedrücktheit und Niedergeschlagenheit des Körpers. Die Einschnürung des ganzen Lebens „spiegelt" sich im Körper als Strangulation einzelner Funktionen, als „zugeschnürte Kehle", als Störung der Durchblutung. Der Körper verweigert die Funktion, wie der Gefangene im Hungerstreik die Nahrung verweigert.

Die Rolle der Gefängnismedizin

Die Rolle der Gefängnismedizin ist dabei derjenigen der Justiz ähnlich und angepasst: sie ist die Verwaltung von Krankheit. Sie ist die Instanz, die den im Leiden der einzelnen Gefangenen spürbaren Vernichtungszweck der Justiz und der auf Ungleichheit und Aussonderung von „Asozialen" aufgebauten Gesellschaft in die Sprache der Medizin und damit scheinbarer „natürlicher Ursache" im Körper eines einzelnen zu übersetzen hat. Die Symptome sollen sich an dieser Regie der Medizin orientieren, um das Bewusstsein ihrer wirklichen gesellschaftlichen Ursa­che, der Verlassenheit und Vereinzelung inmitten einer feindlichen Umwelt, zu verhindern. Die Symptome sind die Werkzeuge der Medizin, mit denen sie einen Kranken beherrscht, Werkzeuge der Folter, Werkzeuge der Vernichtung. Als solche sind sie notwendig, immer von Neuem zu produzieren. Sie müssen mit Medikamenten versorgt werden. Sie müssen verwaltet werden, um sie festzuhalten und am Verschwinden im Unbewussten oder im Bewussten zu hindern. Die Krankheit als Sprache der Symptome ernährt sich von Medikamenten. Verbunden mit der Medizin, deren Sprache sie wiedergibt, ist sie abhängig geworden vom Mittel der Kommunikation, das die Medizin ihr bietet: die Medikamente, die Behandlung. Das Verhältnis der/des Kranken zur Ärztin/zum Arzt ist damit das Verhältnis des Süchtigen zum Dealer. Die Beziehung der Krankheit zu ihrer Behandlung gleicht einem Tauschhandel: für das Angebot eines organischen Symptoms erhält der Körper den entsprechenden Wert in der Form einer symbolischen Zuwendung: die Medizin, die Pillen. . .

Krankheit bedeutet Verzicht auf eine andere Lösung

Die Krankheit, das Eingehen auf die Sprache der Medizin und der Symptome, bedeutet den momentanen Verzicht auf eine ändere Lösung des Leidens: auf Vernunft, Gesundheit, Revolte. Eine solche zerstörerische Haltung gegenüber dem eigenen Ich kann für die Institution, die zur Zerstörung von ausgesonderten Menschen da ist, nur förderlich sein; sie wird deshalb alles tun, um ihr die ganze Szenerie ärztlicher Behandlung zur Verfügung zu stellen. Es geht nicht mehr um die Geschichte eines Menschen, sondern um das Spiel der Krankheitserreger in seinem Körper.

Krankheit als Geste des Protestes und der Verzweiflung

Es ist sehr problematisch, den äußeren Anschein einer medizinischen Behandlung für wahr zu nehmen. Was nach außen keinen anderen Zweck zu haben scheint, als dich wieder gesund zu machen, kann in Wirklichkeit einen ganz anderen Zweck haben. Und was dir selbst als etwas Fremdes, als deine Krankheit erscheint, kann eine für dich selbst fremd gewordene Ausdrucksweise deines Fühlens und Denkens sein. Die Medizin versucht Krankheit als etwas Fremdes von deinem Leben abzutrennen, als würde es nicht dazugehören. Jede Krankheit hat aber ihre eigene Entstehungsgeschichte im eigenen Leben, sie hat ihre Bedingungen, die nicht anders sind als die Bedingungen, unter denen du lebst. So wie jemand, dem in einer heftigen Auseinandersetzung „die Worte fehlen" und der sich dann nur noch mit wütenden Gesten helfen kann, so ist auch die Krankheit oft eine solche Geste des Protestes und der Verzweiflung - eine einfachere Sprache, die uralt ist. Die Gefahr einer solchen Rückkehr zu primitiven Ausdrucksformen ist, dass solche Aus­drucksformen - der Krankheit, des Selbstmordes, des Haftkollers - von der Institution, die immer gefühllos reagiert, am leichtesten überwältigt und sogar in das Gegenteil dessen, was sie aussagen, umgemünzt werden können. Krankheiten als Widerstand machen das, was die unterlegenen „Naturvölker" in ihrem Kampf gegen die modernen Eroberer_innen oft getan haben: sie kämpfen einen Kampf der Selbstvernichtung, sie treffen nicht mehr einen Feind, sondern ihr Widerstand trifft nur noch sie selbst - und am Ende steht entweder der Tod oder das Eingehen auf die Angebote der Unterdrücker_innen, die Kolonisierung.

Sind solche Krankheiten vermeidbar?

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, wie wichtig eine entsprechende innere Haltung zur Vermeidung von Krankheiten ist. Krankheiten sind nicht etwas, was nur „natürliche" Ursachen, also organische, körperliche Ursachen hat, sondern in hohem Maß sind an der Entstehung von Krankheiten unbewusste Haltungen beteiligt. Die Krankheiten sind oft Ausdruck solcher unbewussten Haltungen und der eigenen Unfähigkeit, andere Lösungen für innere Konflikte zu finden. Natürlich wird hier nicht übersehen, dass es die lebens- und gesundheitsfeindlichen Bedingungen sind, von denen der Angriff auf deine Gesundheit ausgeht. Zwischen diesem Angriff und dem Erscheinen von Krankheit liegt jedoch ein Prozess der eigenen Verarbeitung. Und an diesem Punkt besteht die Chance einzugreifen und andere Reaktionsweisen als das Krankwerden zu entwickeln. Hier hilft natürlich nicht die platte Empfehlung weiter, es nicht zu einer solchen krankmachenden Haltung kommen zu lassen, denn solche Prozesse, gerade weil sie unbewusst sind, entziehen sich einem „vernünftigen Vorsatz". Trotzdem kann es nützen, über die eigenen Möglichkeiten, statt krank zu werden, andere Lösungen zu finden, etwas mehr zu wissen. Das wird man damit können, dass man versucht, mit diesen seelischen Vorgängen in Gedanken und in Gesprächen umzugehen, und dass man einen Ausdruck für das findet, was einem selbst an inneren Motiven klar wird. Dann wird man auch imstande sein, mit anderen unverklemmter und mit weniger Scheinbehauptungen über sich selbst auszukommen. Man wird nicht mehr auf ein vorgetäuschtes Scheinbild seiner selbst, ein künstlich nur für andere geschaffenes Selbstbewusstsein angewiesen sein, und man wird die eigenen Fehler und Niederlagen mit mehr innerer Stärke hinnehmen können, statt sich davon in unbewusste Verzweiflungshandlungen - wie z.B. eine Krankheit - treiben zu lassen. Gleichzeitig kann man mit dem Bewusstsein über die psychischen Hintergründe der Krankheit bei sich selbst auch Angst vor ihr abbauen - und das Gefühl ihr hilflos ausgeliefert zu sein - indem man ihr die Fremdheit nimmt und sie nicht mehr als Angriff von außen begreift, sondern als eigene Defensive gegen die Knastrealität.


14.1. Die unbestimmten Krankheiten und die krankmachende Haltung

Oft lässt sich zunächst keine organische Erkrankung feststellen, oder die organische Erkrankung, z.B. im Unterleib, scheint von einem Organ zum anderen zu wandern. Die Krankheitsanzeichen werden von den Gefangenen selbst nach dem üblichen medizinischen Muster gedeutet, z.B. als „Kreislaufstörung". Es wäre die Krankheitserforschung durch einen Psychoanalytiker nötig, um zu erfahren, weiche Beziehung z.B. zwischen der selbst wahrgenommenen „Kreislaufstörung" und dem „Kreislauf" des Hofgangs bestehen kann. Krankheitsbezeichnungen, die von den Gefangenen aufgenommen werden, scheinen oft eine sinnbildliche Bedeutung zu haben, sowohl bei der Wahl, die der Körper in Bezug auf eine Krankheit trifft, wie bei der Bezeichnung, die der Verstand dafür findet. Zwischen „Es geht mir schlecht" und „Mir ist schlecht" gibt es eine Beziehung, von der wir wenig wissen.

Einige Beobachtungen

Hier sollen einige Beobachtungen beschrieben werden, die verdeutlichen, wie eine krankmachende Haltung krank machen kann und welche doppeldeutige Rolle die Anstaltsmedizin dabei spielt.

Die erste Beobachtung:

Ein Gefangener, der neun Monate inhaftiert ist, unter denselben Bedingungen wie ich, also innerhalb des Gefängnisses nicht isoliert. Er klagt über dauernde starke Kopfschmerzen, migräneartig - ein starker Druck um die Schläfen. Er kann sich nicht mehr konzentrieren. Ein Buch zu lesen ist ihm unmöglich geworden - schon seit drei, vier Monaten gelingt ihm das nicht mehr, das Lesen hat er deswegen ganz aufgegeben. Er spricht nur flüsternd, „nuschelnd" und verwirrt. Manchmal versteht man ihn nicht. Er sagt, er kann nicht mehr lauter reden, er sei zu aufgeregt, die Kehle ist ihm zugeschnürt. Bei der Gerichtsverhandlung war er derart aufgeregt, dass er kein Wort herausbrachte. Die Verhandlung musste ausgesetzt werden. Sein Pulsschlag war bei der Verhandlung auf 130. Er zitterte und hatte Schweißausbrüche. Er konnte nicht stehen, nicht reden, verstand kaum etwas von dem, was vorging. Er sagt, die Gedanken würden sich ihm verwirren, er könne nichts mehr aufnehmen. Er „faselt" assoziativ, in Sängen Pausen.

Eine weitere Beobachtung:

Der tschechische Gefangene L. - im Mai 1976 inhaftiert im Gefängnis von Butzbach - ist seit drei Jahren in Gefangenschaft. Er war zwei Jahre in Untersuchungshaft im Gefängnis von Darmstadt. Nach zwei Jahren war er zusammengebrochen. Er hatte einen Anfall mit Symptomen eines Herzinfarkts: er bekam keine Luft mehr, ein schmerzhaftes Herzpochen, Todesangst. Man sagte ihm: Das ist die U-Haft, dagegen haben wir keine Pillen! Er bekam diesen Anfall noch mehrere Male. Sein Zustand besserte sich aber immer, wenn er das Fenster öffnete und frische Luft einatmete. Er kam ins Grübeln über seine Anfälle. Er machte Experimente, durch die er sich zu erklären versuchte, woher diese Zustände kämen. Zum Beispiel legte er sich im ersten Moment eines neuen Anfalls ein feuchtes Handtuch übers Gesicht, und dabei merkte er, dass der Anfall sofort nachließ. Durch die misstrauisch beobachteten Anzeichen in seiner Umgebung, die er sich nicht anders erklären konnte, kam er auf den Gedanken, dass man ihn mit Gas foltern würde. Möglicherweise hat sich dieser Gedanke erst in einem langen Prozess der Gewöhnung bei ihm festgesetzt.

Dritte Beobachtung:

Ich kenne W. seit 1976, seitdem er hier im Untersuchungsgefängnis in Frankfurt-Preungesheim ist. Seitdem war ich die meiste Zeit mit ihm auf derselben Station zusammen und kann die Entwicklung seines Gesundheitszustandes beurteilen. In den ersten Monaten hatte er offenbar keine Beschwerden. Ich habe den Eindruck, dass er seit dieser ersten Zeit sich verändert hat; seine frühere aggressive Grundstimmung ist einer depressiven Grundstimmung gewichen: er redet weniger, meistens in deprimiertem Ton und meistens über seinen physischen Zustand, über die Schmerzen, die er hat usw. Offenbar hat er Schmerzen an der Galle, am Magen und unter Umständen auch ein mit der Blutzirkulation zusammenhängendes Leiden - jedenfalls vermutet er das, und ich habe keinen Grund, an seinen Angaben zu zweifeln, weil es mir nach 19 Monaten Haft ähnlich schlecht ergeht. Dass selbst bei jungen Menschen hier herzinfarktähnliche Zustände auftreten, habe ich hier mehrmals beobachtet. Die Haft stört bereits nach einigen Monaten das psychophysische Gleichgewicht soweit, dass sich fast bei jeder und jedem Gefangenen, oft in rascher Aufeinanderfolge, Symptome entwickeln, die schwer heilbar sind und sich durch Medikamentenbehandlung vermutlich nur verschieben. Wegen der dauernden Schmerzen und der inzwischen wirklichen Krankheit halte ich W. nicht für haftfähig. Seine Krankheit ist durch die Haft verursacht, genauso wie der ähnlich elende Zustand anderer hier. Im Unterschied zu anderen, die ihre Symptome besser beherrschen, ist W. aber offenbar in einer tatsächlichen Gefahr, wenn man ihn nur mit Medikamenten behandelt und den Prozess, der seine Symptome verursacht, nicht versteht. Die sture Verabreichung von Medikamenten, wie sie hier betrieben wird, erzeugt außerdem Drogenabhängigkeit und, weil die Behandlung nur ein routinehaftes Abspeisen mit Medizinen ist, unvorhergesehene physische Nebenwirkungen.

Deshalb habe ich für W. (und nach seinen Vorstellungen) einen Antrag auf eine psychotherapeutische Begutachtung geschrieben. Diese soll auch feststellen, ob eine Behandlung im Gefängnis möglich ist. Soviel ich die Zustände im Gefängniskrankenhaus in Kassel, wo es auch eine neurologische Abteilung gibt, kenne, ist sie dort nicht möglich. Das Gefängniskrankenhaus ist gefürchtet. Kranke weigern sich, dorthin gebracht zu werden. Der Leiter dieses Krankenhauses ist durch eine ganze Kolonne unaufgeklärter Todesfälle und durch Zwangsbehandlung und Zwangsernährung bekannt geworden. Die Blinddarmoperationen, die man dort verabfolgt, hinterlassen Nähte, die sich über den ganzen Bauch ziehen. Die Behandlung psychischer Symptome wird mit Medikamenten versucht. Es ist anzunehmen, dass die neurologische Abteilung dieses Krankenhauses nur in einem Punkt Erfolge erzielt, nämlich in der Anpassung von Gefangenen an bestimmte Krankheiten, die sie dann tatsächlich bekommen. In Wirklichkeit ist dieses Krankenhaus nur eine medizinische Verwaltung. Mit seinem Vorhandensein soll es den Haftrichter_innen erspart werden, Gefangene wegen der ihnen beigebrachten Schäden aus dem Gefängnis entlassen zu müssen. Im Fall von W. beweist sich, welche Verletzungen man einer/einem Gefangenen beibringen kann, ohne ihn zu prügeln oder zu foltern und ohne dass es dafür einen einzelnen Verantwortlichen gibt, da niemand ihm diese Verletzungen durch eigene, selbst überblickte Handlungen zugefügt hat. Trotzdem ist es eine zugefügte Verletzung, da es unmöglich ist, die Bedingungen hier gesund zu überstehen. Als einzige Alternative zu einer Haftverschonung und ambulanten Behandlung würde ich eine Selbstaufklärung und Selbstbehandlung sehen. Dazu müsste hier eine Selbstbehandlungsgruppe zugelassen werden. Dass sie von der Leitung dieses Gefängnisses zugelassen wird, ist unwahrscheinlich, denn zwar nicht ihren Erklärungen, aber ihren Taten nach können wir ihr nicht krank genug werden. Es ist schon immer hier praktiziert worden, durch physischen Zwang, durch Entzug von Bewegung, Luft, Kommunikation, die Prozesse fördern zu helfen. . . Es ist also nicht zu erwarten, dass eine solche Selbstaufklärungsgruppe, die auch einen Angriff auf die Anstaltsärzte bedeutet, zugelassen wird. Im gegenwärtigen Moment jedenfalls nicht. Eine Behandlung durch den Psycholog_innen, der nach meiner Information hier nur einen bestimmten Zwischenraum seiner Ausbildung selbst und an anderen Gefangenen gehen solche Symptome, wie sie sich her W. finden, auf eine spezifische Situation zurück, die man als den Mangel an Solidari­tät umschreiben kann. Die Solidarität ist das einzige, was eine_n Gefangene_n vom Wahnsinn trennt. Ohne sie bedroht ihn alles. Deshalb kann auch im medizinischen Sinn im Gefängnis nur eine gegenseitige und nicht eine von anonymen Funktionä­ren durchgeführte Behandlung Erfolg haben.

Die „krankmachende Haltung"

Diese Beobachtungen zeigen auch, welche Bedeutung die Selbsterfahrung und Selbsteinschätzung eines Menschen für die Art und Weise seines Krankwerdens haben. Dies kann man auch als „krankmachende Haltung" bezeichnen. Wobei gerade die Enge und der Zwang im Knast das Denken und Fühlen des Gefangenen auf die eigenen Körperfunktionen bzw. das Nicht-funktionieren beschränken. Krankmachende Haltungen lassen sich aber nicht leicht korrigieren. Wenn man aber ihre Bedeutung erkennt, sich ihrer zerstörerischen Funktion bewusst wird, kann man mit der Krankheit umgehen und ein positives Verhältnis zu ihr bekommen. Die krankmachende Haltung verflüchtigt sich wie Wasser bei Hitze, wenn ihr negativer, gegen deine Person gerichteter Sinn bewusst wird, wenn du mit ihr umgehen kannst. Das bedeutet: nicht nur deine körperlichen Funktionen musst du halbwegs kennen, um sie - z.B. durch Gymnastik - erhalten zu können, sondern genauso wichtig ist auch, deine unbewussten, krankmachenden Haltungen zu kennen - was zugleich bedeuten kann, sie aufzulösen, sich von ihnen zu befreien, ohne Medizin gesund zu bleiben. Der folgende Text ist ein Erfahrungsbericht eines Gefangenen.

Das Leiden orientiert sich an der Medizin

Die unbestimmbaren Krankheiten, also die sogenannten Haftsyndrome, die keinem bekannten Krankheitsbild zuzuordnen sind, weil sie sich zwischen den Krankheitsbildern unentschieden hin- und herbewegen, können als Versuche des Unbewussten gedeutet werden, einem Modell von Krankheit, das die Medizin dem Kranken durch ihre Begriffe, durch ihre „Geographie" eines kranken Körpers bietet, ähnlich zu werden, sich an ihm zu orientieren, ihm zu entsprechen und sich durch eine solche Entsprechung als etwas auszuweisen, was der Zuwendung durch andere bedarf, wenn sie schon nicht anders zu erhalten ist. Ein gesellschaftliches Befinden sucht also nach den angemessenen, ernstgenommenen, tolerierten Formen des Ausdrucks von Leiden - einer Krankheit, während andere Formen des Ausdrucks von Leiden verschlossen bleiben, weil sie entweder mit Strafen verbunden sind oder mit dem Etikett der „Schwäche", der Lächerlichkeit, der Verachtung. Kranksein darf dagegen auch die/der Stärkste. Das Unbewusste trifft eine Auswahl unter den Krankheitsbildern nach dem Vorbild der Medizin, die eine Gesamtheit des Befindens in ihre eigene Sprache, die Sprache der Symptome, der Nerven, Schmerzen, des Herzrhythmus, der Diagramme des EKG, umsetzt, um die vereinzelten, von dem Leiden eines Menschen losgerissenen Symptome beherrschen zu können. Krankheiten in diesem Sinn sind also Angebote an die Medizin, Versuche des Dialogs auf einem Gebiet, das noch sprachlos und unbewusst ist und das Eingehen auf die Sprache der Symptome. Auf diese Weise kann sich die Kommunikation des Kranken mit der Medizin entfalten, weil es keine andere Weise der Kommunikation für ihn gibt. Die Niedergeschlagenheit des Zustands des Gefangenseins spricht in der „Depression", in der Gedrücktheit und Niedergeschlagenheit des Körpers. Die Einschnürung des ganzen Lebens „spiegelt" sich im Körper als Strangulation einzelner Funktionen, als „zugeschnürte Kehle", als Störung der Durchblutung. Der Körper verweigert die Funktion, wie der Gefangene im Hungerstreik die Nahrung verweigert.

Die Rolle der Gefängnismedizin

Die Rolle der Gefängnismedizin ist dabei derjenigen der Justiz ähnlich und angepasst: sie ist die Verwaltung von Krankheit. Sie ist die Instanz, die den im Leiden der einzelnen Gefangenen spürbaren Vernichtungszweck der Justiz und der auf Ungleichheit und Aussonderung von „Asozialen" aufgebauten Gesellschaft in die Sprache der Medizin und damit scheinbarer „natürlicher Ursache" im Körper eines einzelnen zu übersetzen hat. Die Symptome sollen sich an dieser Regie der Medizin orientieren, um das Bewusstsein ihrer wirklichen gesellschaftlichen Ursa­che, der Verlassenheit und Vereinzelung inmitten einer feindlichen Umwelt, zu verhindern. Die Symptome sind die Werkzeuge der Medizin, mit denen sie einen Kranken beherrscht, Werkzeuge der Folter, Werkzeuge der Vernichtung. Als solche sind sie notwendig, immer von Neuem zu produzieren. Sie müssen mit Medikamenten versorgt werden. Sie müssen verwaltet werden, um sie festzuhalten und am Verschwinden im Unbewussten oder im Bewussten zu hindern. Die Krankheit als Sprache der Symptome ernährt sich von Medikamenten. Verbunden mit der Medizin, deren Sprache sie wiedergibt, ist sie abhängig geworden vom Mittel der Kommunikation, das die Medizin ihr bietet: die Medikamente, die Behandlung. Das Verhältnis der/des Kranken zur Ärztin/zum Arzt ist damit das Verhältnis des Süchtigen zum Dealer. Die Beziehung der Krankheit zu ihrer Behandlung gleicht einem Tauschhandel: für das Angebot eines organischen Symptoms erhält der Körper den entsprechenden Wert in der Form einer symbolischen Zuwendung: die Medizin, die Pillen. . .

Krankheit bedeutet Verzicht auf eine andere Lösung

Die Krankheit, das Eingehen auf die Sprache der Medizin und der Symptome, bedeutet den momentanen Verzicht auf eine ändere Lösung des Leidens: auf Vernunft, Gesundheit, Revolte. Eine solche zerstörerische Haltung gegenüber dem eigenen Ich kann für die Institution, die zur Zerstörung von ausgesonderten Menschen da ist, nur förderlich sein; sie wird deshalb alles tun, um ihr die ganze Szenerie ärztlicher Behandlung zur Verfügung zu stellen. Es geht nicht mehr um die Geschichte eines Menschen, sondern um das Spiel der Krankheitserreger in seinem Körper.

Krankheit als Geste des Protestes und der Verzweiflung

Es ist sehr problematisch, den äußeren Anschein einer medizinischen Behandlung für wahr zu nehmen. Was nach außen keinen anderen Zweck zu haben scheint, als dich wieder gesund zu machen, kann in Wirklichkeit einen ganz anderen Zweck haben. Und was dir selbst als etwas Fremdes, als deine Krankheit erscheint, kann eine für dich selbst fremd gewordene Ausdrucksweise deines Fühlens und Denkens sein. Die Medizin versucht Krankheit als etwas Fremdes von deinem Leben abzutrennen, als würde es nicht dazugehören. Jede Krankheit hat aber ihre eigene Entstehungsgeschichte im eigenen Leben, sie hat ihre Bedingungen, die nicht anders sind als die Bedingungen, unter denen du lebst. So wie jemand, dem in einer heftigen Auseinandersetzung „die Worte fehlen" und der sich dann nur noch mit wütenden Gesten helfen kann, so ist auch die Krankheit oft eine solche Geste des Protestes und der Verzweiflung - eine einfachere Sprache, die uralt ist. Die Gefahr einer solchen Rückkehr zu primitiven Ausdrucksformen ist, dass solche Aus­drucksformen - der Krankheit, des Selbstmordes, des Haftkollers - von der Institution, die immer gefühllos reagiert, am leichtesten überwältigt und sogar in das Gegenteil dessen, was sie aussagen, umgemünzt werden können. Krankheiten als Widerstand machen das, was die unterlegenen „Naturvölker" in ihrem Kampf gegen die modernen Eroberer_innen oft getan haben: sie kämpfen einen Kampf der Selbstvernichtung, sie treffen nicht mehr einen Feind, sondern ihr Widerstand trifft nur noch sie selbst - und am Ende steht entweder der Tod oder das Eingehen auf die Angebote der Unterdrücker_innen, die Kolonisierung.

Sind solche Krankheiten vermeidbar?

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, wie wichtig eine entsprechende innere Haltung zur Vermeidung von Krankheiten ist. Krankheiten sind nicht etwas, was nur „natürliche" Ursachen, also organische, körperliche Ursachen hat, sondern in hohem Maß sind an der Entstehung von Krankheiten unbewusste Haltungen beteiligt. Die Krankheiten sind oft Ausdruck solcher unbewussten Haltungen und der eigenen Unfähigkeit, andere Lösungen für innere Konflikte zu finden. Natürlich wird hier nicht übersehen, dass es die lebens- und gesundheitsfeindlichen Bedingungen sind, von denen der Angriff auf deine Gesundheit ausgeht. Zwischen diesem Angriff und dem Erscheinen von Krankheit liegt jedoch ein Prozess der eigenen Verarbeitung. Und an diesem Punkt besteht die Chance einzugreifen und andere Reaktionsweisen als das Krankwerden zu entwickeln. Hier hilft natürlich nicht die platte Empfehlung weiter, es nicht zu einer solchen krankmachenden Haltung kommen zu lassen, denn solche Prozesse, gerade weil sie unbewusst sind, entziehen sich einem „vernünftigen Vorsatz". Trotzdem kann es nützen, über die eigenen Möglichkeiten, statt krank zu werden, andere Lösungen zu finden, etwas mehr zu wissen. Das wird man damit können, dass man versucht, mit diesen seelischen Vorgängen in Gedanken und in Gesprächen umzugehen, und dass man einen Ausdruck für das findet, was einem selbst an inneren Motiven klar wird. Dann wird man auch imstande sein, mit anderen unverklemmter und mit weniger Scheinbehauptungen über sich selbst auszukommen. Man wird nicht mehr auf ein vorgetäuschtes Scheinbild seiner selbst, ein künstlich nur für andere geschaffenes Selbstbewusstsein angewiesen sein, und man wird die eigenen Fehler und Niederlagen mit mehr innerer Stärke hinnehmen können, statt sich davon in unbewusste Verzweiflungshandlungen - wie z.B. eine Krankheit - treiben zu lassen. Gleichzeitig kann man mit dem Bewusstsein über die psychischen Hintergründe der Krankheit bei sich selbst auch Angst vor ihr abbauen - und das Gefühl ihr hilflos ausgeliefert zu sein - indem man ihr die Fremdheit nimmt und sie nicht mehr als Angriff von außen begreift, sondern als eigene Defensive gegen die Knastrealität.


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