Das "Verrücktwerden"

Aus Gefangenenratgeber

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14.2. Das „Verrücktwerden"


Im Knast soll dir dein Körper genommen werden, all deine Lebensäußerungen - dein Ich und deine Identität - sollen auf die Haftsituation bezogen, ihr angemessen sein. Vor hundert Jahren noch wurde bei Diebstahl die Hand abgeschlagen, bei schwerem Raub der Körper zerstört und vor aller Öffentlichkeit von der Justiz gemordet. Heute ist die Strafverfolgung nicht mehr öffentlich und in der Meinung vieler „humanisiert" - „menschlicher". Im Knast merkst du täglich, was das heißt. Dein Tagesablauf wird streng geregelt. Du darfst spazieren gehen - aber nur im Hof. Du darfst Briefe schreiben und erhalten - aber zensiert. Du darfst dich gesünder ernähren - aber nur durch selbstgekaufte Sonderrationen. Du darfst dich an Gemeinschaftsveranstaltungen beteiligen - aber nur wenn du nicht auffällst und dich anpasst. Du darfst sogar einen Arzt aufsuchen und du hast ein Recht auf medizinische Betreuung - aber nur wenn du mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln zufrieden bist. Du fragst dich, wenn der Knast so menschlich sein soll, warum denn dann so viele Leute ausflippen, schwer krank werden, sich selbst zerstören, indem sie Gabeln o.ä. schlucken, sich verletzen oder sich mit Kabeln, elektrischem Strom töten.

Der Wirklichkeit entfliehen

Es ist der Knast, der dich nicht nur bestrafen, sondern zerstören will. Wir haben nun beschrieben, wie du dich fit halten kannst, deinen Körper fühlen, bewusst halten und deine Persönlichkeit aufrechterhalten kannst, wobei das Aufschreiben sicher sehr viel einfacher ist. Doch du musst auch seelische Waffen haben, um nicht ganz kaputt zu gehen. Eine Hilfe hierbei kann das autogene Training sein oder das Konzentrieren auf Hobbys oder Probleme, die mit dem Knast nichts zu tun haben. In der Isolationshaft oder bei Verhören kann es notwendig sein, dass du dir ganz intensiv bestimmte Situationen vorstellst. Zum Beispiel wie du als Schüler_in eine_n Lehrer_in reingelegt hast, was du als Kind oder im Urlaub erlebt hast, oder wie du deinen Freund, deine Freundin kennen- und liebengelernt hast. Es sollten Sachen sein, die dich glücklich und stark gemacht haben. Wenn das nicht ausreicht, um deine Gedanken und deine Gefühle von deinem Hunger, deiner Todesangst und deiner Einsamkeit abzulenken, dann kann es notwendig sein, dass du dich noch mehr in andere Sachen hineinsteigerst. Zum Beispiel, dass du ein_e ganz große_r Erfinder_in bist und gefeiert wirst, weil du ein besonders gutes Essen gemacht hast mit tollen Zutaten, oder ein Auto, das besonders robust ist und nie rostet, oder dass du ein_e ganz große_r Maler_in, Bildhauer_in, Schriftsteller_in bist. Du kannst dir auch ganz intensiv Sachen aus den Geschichtsbüchern, notfalls auch aus der Bibel, vorstellen, was dazu dichten oder sie ausmalen. Für manche ist es sogar notwendig, der Knastwirklichkeit soweit zu entfliehen, dass sie sich selbst ver-rücken, oder wie andere meinen, „verrückt" werden. Um nicht ständig daran zu denken, wie beschissen das Leben im Knast ist, dass du so gut wie tot oder noch schlimmer: ausgebrannt, leer und zerstört bist, musst du vielleicht sogar in eine andere Wirklichkeit flüchten, um nicht von deiner Angst überwältigt zu werden.

Mit der/dem „Verrückten“ solidarisch sein

Du hast sicher schon einige Mitgefangene kennen gelernt, die sich einbilden, sie seien Napoleon oder eine andere Berühmtheit, oder die das Gefühl haben, jeden Tag langsam vergiftet zu werden (was bei dem Gefängnisfraß manchmal gar nicht so verkehrt gedacht ist). Oder die wie verrückt um sich schlagen, weil ihnen alles egal geworden ist. Oder mit denen du plötzlich überhaupt nicht mehr reden kannst, die nur noch still, schweigsam und regungslos sind - als wenn sie in eine andere Welt entrückt sind. Manche müssen irgendwelche Ideen oder irgendein Verhalten produzieren, um wenigstens in sich selbst noch zu spüren, dass sie leben, dass etwas in ihrem Körper und in ihrem Kopf noch passiert. Doch was kannst du selber tun, wenn ein_e Mitgefangene_r beginnt durch­zudrehen, an der Haft verzweifelt und sozusagen verrückt wird. Die Wärter schmeißen ihn in den Bunker oder die Glocke, in Isohaft, angeblich um ihn „zur Ruhe zu bringen", womit sie ihn aber schließlich ganz kaputt machen. Die Ärzte im Knast pumpen ihn voll mit Beruhigungsmitteln, damit er überhaupt nichts mehr merkt, keine Gedanken, keine Gefühle mehr hat. Die Angst ist erstmal weg, aber damit auch das Menschsein. Aber du selber kannst, wenn du mit der/dem Durchgedrehten solidarisch bist, etwas sehr wichtiges tun, nämlich sie/ihn in ihrer/seiner Verzweiflung und Verwirrung ernst nehmen. Du kannst ihm zeigen, dass du weißt, dass der Knast ihn verrückt und krank macht, dass du ihn verstehst, ihn akzeptierst. Auch wenn alle immer gleich schreien, du seist ein Homo, kannst du ihn in den Arm nehmen und ihr/ihm zeigen, dass ihr beide - trotz Knast - nicht aufgebt. Denn auch er versucht in seiner Weise, mit der Haftsituation fertig zu werden und Widerstand zu leisten.


14.2. Das „Verrücktwerden"


Im Knast soll dir dein Körper genommen werden, all deine Lebensäußerungen - dein Ich und deine Identität - sollen auf die Haftsituation bezogen, ihr angemessen sein. Vor hundert Jahren noch wurde bei Diebstahl die Hand abgeschlagen, bei schwerem Raub der Körper zerstört und vor aller Öffentlichkeit von der Justiz gemordet. Heute ist die Strafverfolgung nicht mehr öffentlich und in der Meinung vieler „humanisiert" - „menschlicher". Im Knast merkst du täglich, was das heißt. Dein Tagesablauf wird streng geregelt. Du darfst spazieren gehen - aber nur im Hof. Du darfst Briefe schreiben und erhalten - aber zensiert. Du darfst dich gesünder ernähren - aber nur durch selbstgekaufte Sonderrationen. Du darfst dich an Gemeinschaftsveranstaltungen beteiligen - aber nur wenn du nicht auffällst und dich anpasst. Du darfst sogar einen Arzt aufsuchen und du hast ein Recht auf medizinische Betreuung - aber nur wenn du mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln zufrieden bist. Du fragst dich, wenn der Knast so menschlich sein soll, warum denn dann so viele Leute ausflippen, schwer krank werden, sich selbst zerstören, indem sie Gabeln o.ä. schlucken, sich verletzen oder sich mit Kabeln, elektrischem Strom töten.

Der Wirklichkeit entfliehen

Es ist der Knast, der dich nicht nur bestrafen, sondern zerstören will. Wir haben nun beschrieben, wie du dich fit halten kannst, deinen Körper fühlen, bewusst halten und deine Persönlichkeit aufrechterhalten kannst, wobei das Aufschreiben sicher sehr viel einfacher ist. Doch du musst auch seelische Waffen haben, um nicht ganz kaputt zu gehen. Eine Hilfe hierbei kann das autogene Training sein oder das Konzentrieren auf Hobbys oder Probleme, die mit dem Knast nichts zu tun haben. In der Isolationshaft oder bei Verhören kann es notwendig sein, dass du dir ganz intensiv bestimmte Situationen vorstellst. Zum Beispiel wie du als Schüler_in eine_n Lehrer_in reingelegt hast, was du als Kind oder im Urlaub erlebt hast, oder wie du deinen Freund, deine Freundin kennen- und liebengelernt hast. Es sollten Sachen sein, die dich glücklich und stark gemacht haben. Wenn das nicht ausreicht, um deine Gedanken und deine Gefühle von deinem Hunger, deiner Todesangst und deiner Einsamkeit abzulenken, dann kann es notwendig sein, dass du dich noch mehr in andere Sachen hineinsteigerst. Zum Beispiel, dass du ein_e ganz große_r Erfinder_in bist und gefeiert wirst, weil du ein besonders gutes Essen gemacht hast mit tollen Zutaten, oder ein Auto, das besonders robust ist und nie rostet, oder dass du ein_e ganz große_r Maler_in, Bildhauer_in, Schriftsteller_in bist. Du kannst dir auch ganz intensiv Sachen aus den Geschichtsbüchern, notfalls auch aus der Bibel, vorstellen, was dazu dichten oder sie ausmalen. Für manche ist es sogar notwendig, der Knastwirklichkeit soweit zu entfliehen, dass sie sich selbst ver-rücken, oder wie andere meinen, „verrückt" werden. Um nicht ständig daran zu denken, wie beschissen das Leben im Knast ist, dass du so gut wie tot oder noch schlimmer: ausgebrannt, leer und zerstört bist, musst du vielleicht sogar in eine andere Wirklichkeit flüchten, um nicht von deiner Angst überwältigt zu werden.

Mit der/dem „Verrückten“ solidarisch sein

Du hast sicher schon einige Mitgefangene kennen gelernt, die sich einbilden, sie seien Napoleon oder eine andere Berühmtheit, oder die das Gefühl haben, jeden Tag langsam vergiftet zu werden (was bei dem Gefängnisfraß manchmal gar nicht so verkehrt gedacht ist). Oder die wie verrückt um sich schlagen, weil ihnen alles egal geworden ist. Oder mit denen du plötzlich überhaupt nicht mehr reden kannst, die nur noch still, schweigsam und regungslos sind - als wenn sie in eine andere Welt entrückt sind. Manche müssen irgendwelche Ideen oder irgendein Verhalten produzieren, um wenigstens in sich selbst noch zu spüren, dass sie leben, dass etwas in ihrem Körper und in ihrem Kopf noch passiert. Doch was kannst du selber tun, wenn ein_e Mitgefangene_r beginnt durch­zudrehen, an der Haft verzweifelt und sozusagen verrückt wird. Die Wärter schmeißen ihn in den Bunker oder die Glocke, in Isohaft, angeblich um ihn „zur Ruhe zu bringen", womit sie ihn aber schließlich ganz kaputt machen. Die Ärzte im Knast pumpen ihn voll mit Beruhigungsmitteln, damit er überhaupt nichts mehr merkt, keine Gedanken, keine Gefühle mehr hat. Die Angst ist erstmal weg, aber damit auch das Menschsein. Aber du selber kannst, wenn du mit der/dem Durchgedrehten solidarisch bist, etwas sehr wichtiges tun, nämlich sie/ihn in ihrer/seiner Verzweiflung und Verwirrung ernst nehmen. Du kannst ihm zeigen, dass du weißt, dass der Knast ihn verrückt und krank macht, dass du ihn verstehst, ihn akzeptierst. Auch wenn alle immer gleich schreien, du seist ein Homo, kannst du ihn in den Arm nehmen und ihr/ihm zeigen, dass ihr beide - trotz Knast - nicht aufgebt. Denn auch er versucht in seiner Weise, mit der Haftsituation fertig zu werden und Widerstand zu leisten.


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