Alleinsein in der Zelle

Aus Gefangenenratgeber

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4.1. Alleinsein in der Zelle

Das Paradoxe im Knast ist, daß einem weniger körperliche Kraft, als die geistige Anstrengung weiterhelfen kann. Der Widerstand, der aus kör­perlicher Kraft kommt, stößt sofort auf die noch stärkere physische Kraft der Institution und wird unterdrückt. Deswegen sind verfeinerte Formen des Widerstands notwendig. Dazu gehört vor allem, wie man sich selbst widerstandsfähig erhält. Durch physische Anstrengung allein kann man das nicht. Es ist zum Beispiel unmöglich, sich nur durch Gymnastik und Bewegung, Sport wirklich widerstandsfähig zu halten. Und auch durch blinde Aktivität ist das nicht möglich, weil eine solche Aktivität etwas ist, was von der Umgebung gesteuert sein kann. Man braucht mehr als Kraft, man braucht Wissen und eine überlegte Strategie, um der langjährigen Zermürbung durch die Institution zu entgehen und um nicht mit dem eigenen Widerstand ins Leere zu treffen oder sich nur selber damit zu treffen. Was man spontan tun möchte, ist nicht immer das Richtige.

Techniken des Widerstands

Wie man mit der Situation fertig wird, in einer Zeile aliein zu bleiben, das erfordert deswegen viel Konzentration, Überlegung - gerade weil es eine äußerst künstliche Situation ist, die allen natürlichen Instinkten widerspricht. Man kann in der Zelle keine groben Dinge machen – damit wird man sofort auf die Grenzen stossen, die von einzelnen nicht zu durchbrechen sind. Das Alleinsein in der Zelle sollte man deshalb als Gelegenheit betrachten, sich subtilere, feinere Techniken des Wider­stands anzueignen als sie draußen notwendig sind. Man kann alles mögliche machen, womit man sich die Zeit vertreibt, aber das bringt einen auf die Dauer nicht weiter. Man muß versuchen das zu machen, was für das eigene Überleben und das Überleben der andern Gefangenen einen Sinn hat. Es darf nicht lediglich Zeitvertreib sein, oder Vertreibung der Ge­danken. Eine solche Strategie kann darin bestehen, daß man sich zunächst einen Plan für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat usw. macht, zum Beispiel von 8.00 - 9.00 Uhr Zeitung lesen, dann einen Brief schreiben, dann irgendetwas anderes machen. Das sind jedoch nur sehr äußerliche Orientierungshilfen, aber auch sie können nützlich sein. Mit einer umfas­senderen Strategie, die sich auf das ganze eigene Tun bezieht, wird man allerdings eine solche Tageseinteilung nicht mehr brauchen. Dann wird man tun, was man sowieso tun will.

Schreiben

Für die übrigen Tätigkeiten, zum Beispiel das Schreiben, wird man keine Tageseinteilung brauchen. Die Sprache und das Schreiben sind eine Art Ersatz für.Bewegung, Freizügigkeit, Freiheit. Mit der Sprache kann man das kompensieren, was einem an "Leben" draußen fehlt. Man sollte also die Sprache als ein Mittel benutzen, um sich die Realität um einen herum anzueignen. Man wird feststellen, daß man dadurch viel von der Angst, die man vor ihr hat, verliert. Denn man bearbeitet einen Gegenstand, und diese Arbeit macht den Gegenstand schließlich vertraut. Diese Vertrautheit mit dem, was man beschreibt, kann dir sehr helfen. Das gilt natürlich nicht nur für das Schreiben, sondern auch für andere Arten der Realitätsgestaltung,: zum Beispiel Zeichnen. Das Schreiben ist auch ein Ersatz für den andern, der in der Zelle fehlt. Man wird immer versuchen, mit einem andern zu einer menschlichen Beziehung zu kommen, mit einem andern zu sprechen, einen andern zu hören, und wenn es nicht auf die einfache Weise geht, daß man mit dem andern zusammen ist, wird man es über ein Instrument versuchen. Ein banales Instrument ist das Radio, das aber über einen selbst hinwegtönt. Man ist Teilnehmer und doch gleichzeitig ausgeschlossen, man kann nur zuhören. Und um das umzudrehen, um wirklicher Teilnehmer zu sein, fängt man an zu schreiben. In diesem Schreiben ist man beides, nämlich derjenige, der etwas sagt und derjenige, der etwas fragt, der Beobachter und der Beobachtete. Schreiben, nicht wegen irgendweicher literarischer Fähigkeiten, sondern einfach weil es ein Instrument der Verständigung mit sich selbst und der Verständigung mit andern ist.

Der innere Monolog

Ebenso sollte man versuchen, den inneren Monolog, das innere Selbstge­spräch zu vervollkommnen. Man sollte versuchen, dieses Frage- und Antwortspiel der Gedanken soweit zu konzentrieren, daß es ein Gespräch ersetzen kann. Natürlich ersetzt es nie richtige Gespräche, aber es verschafft einem eine innere Stabilität, die man in der Ausgelie­ferten des Gefangenseins notwendig braucht.

Träume

Eine weitere Methode der inneren Stabilisierung ist das Aufschreiben der Träume. Allein durch das ständige Aufschreiben des Geträumten werden die unbewußten Vorgänge, die sich in den Träumen widerspie­geln, zu einem gewissen Teil "aufgearbeitet" und dadurch bewußter. Das Ergebnis kann eine vergrößerte innere Sicherheit und innere Ruhe sein. Auch beim Aufschreiben der Träume hilft nur ständige Übung und Wiederholung. Man wird merken, daß man sich nach einiger Zeit an sehr viele Einzelheiten der Träume erinnern kann.

Chancen des Alleinseins

Auch aus dem Alleinsein in der Zelle kann man einen Teil der Kraft ziehen, die man im Alltag des Gefängnisses braucht (aber auch im Untergrund, dafür gilt dasselbe), Das würde bedeuten, daß man sich in der Zelle darauf vorbereitet, ohne andere auszukommen. Denn das ist die Realität. Wenn man verurteilt ist oder wenn man als politischer Gefangener inhaftiert ist, kann das bedeuten, daß man nicht mehr freikommt. Man ist auf das eigene Ich zurückgeworfen. Es gibt trotz aller Möglichkeiten, im Knast sich mit jemanden anzufreunden, nicht mehr die Möglichkeiten, die es in Freiheit gab. Und außerdem gibt es die Isolation, die nur die Verschärfung des Alieinseins bedeutet, In dieser Situation muß man lernen, mit sich alleine zu leben. Man wird versuchen, alle früheren Erlebnisse in Gedanken zurückzuholen. Aber das ist zunächst nur die Vergangenheit, die irgendwann abstirbt. Um mit der Isolation fertigzuwerden, muß. sich das eigene Denken ständig erneuern. Von der Vergangenheit aHein kann man nicht weiterleben. Und um nicht jener Kommunikation ausgeliefert zu sein, die allein von der Institution bestimmt ist, vom Anstaltsradio und den organisierten "Freizeitgrup­pen", muß man versuchen, ihr das eigene Ich, die eigenen Gedanken entgegenzusetzen. Das ist so wichtig, daß man solche Methoden zum Überleben entwickeln sollte - auch weil die ganze Gewalt der Institution gegen die Wahrnehmung des eigenen Lebens gerichtet ist. Und langfri­stigen Widerstand leisten kann nur, wer sich selbst wahrnimmt. Er wird nicht auf die auferzwungene Orientierung durch die Institution eingehen, er wird sich ihr nicht anpassen. Ein großer Teil des Widerstands besteht darin, wie man mit der Isolation selbst fertig wird, wie man sich selbst dagegen verteidigt. Verteidigen ist an sich etwas, was defensiv ist und als solches einen ungünstigen Platz in der Strategie hat. Wer sich verteidigt, ist bereits halb überwältigt: Man sollte deshalb versuchen, die Isolation positiv aufzufassen, als eine Situation, in der 'auch Sinnvolles - zum Beispiel eine Arbeit, Selbsterfor­schung, eine besondere Form des Widerstands - möglich ist.

Kein allgemeingültiges Rezept

Es gibt sicher sehr unterschiedliche persönliche Wege, mit der Situation des Alleinseins fertig zu werden. Es soll hier nicht versucht werden, ein Generalrezept zu geben, sondern worauf es ankommt ist vielmehr die Technik des überlegten Verhaltens selbst. Die folgenden Erfahrungsbe­richte zeigen die Gegensätzlichkeit von Strategien, aber auch die Ähn­lichkeit in der Gruhdeinstellung, nämlich überhaupt überlegt und pla­nend sich zu verhalten:

Eine sinnvolle Einteilung der Zeit mit allerlei nützlichen Aktivitäten ist besonders in der Totaliso wichtig - um nicht zu sagen: lebensnotwendig. A und O ist ein fester Zeitplan sowie die energische Befolgung desselben. Das fällt manchmal ungeheuer schwer; wer sich aber hängen läßt, ist verloren. Lesen, schreiben sowie malen und bastein sind unter besonderen Umständen enorme Kraftspender. Selbst das blödeste Kreuzworträtsel hat da eine wichtige Funktion. Zum geistigen Beweglichbleiben sind verschiedene Denk- und Ratespiele besonders zu empfeh­len. Solche quasi "vorgekauten" Sachen dürfen aber nicht zum Ersatz für deinen natürlichen Empfindungs- und Einfalisreichtum werden. Zu empfehlen ist auch das Studium einer oder gar mehrerer Sprachen. Von zu vielem sturen Vokabeln­pauken aber ist abzuraten, damit es nicht zur Ersatzhandlung für daS Denken wird. Auch ist die Aufnahmefähigkeit nach einem halben Jahr Totaliso schon ganz schön reduziert. Nach einem Jahr sind schon unheimliche Aussetzer da. Du hast auf einmal fürchterliche Schwierigkeiten, dir einfachste Namen oder Begriffe zu merken, Wenns dir mal ganz dreckig geht: ein Blatt Papier nehmen und in einer Ecke einfach anfangen, was zu malen. Oder was schreiben, was dir einfällt. Das hilft meistens. Am wichtigsten aber ist die sinnvolle Einteilung des endlos erscheinenden Tages, der dir vorkommt, als ob er hundert Stunden lang ist. Je nach Persönlichkeit sollte dabei versucht werden, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen manuellen und geistigen Tätigkeiten zu entwickeln. Bastel irgendwas - und sei's mangels Mög­lichkeit noch so "blödsinnig" - schreib, male, denke, erzähl dir was, studier ein Viech, was die Wand langläuft, gucke in den Spiegel und spiel dir was vor, zieh Grimassen, erzähl dir was, lache, weine - aber hänge nicht rum! Beobachte dich selbst, denk über dich selbst nach. Studiere deinen Körper, flechte dir Zöpfe, onaniere - aber laß nicht zu, daß sich deine Seele, dein Geist von deinem Körper trennt (durch unsinniges Dauergrübeln oder auf der anderen Seite durch geistiges Abschalten, in dem du irgendwas mechanisches machst). Mit der Iso wollen sie dich kaputtmachen - laß es nicht zu! Und klar: körperliches Fitnesstratning. Sehr nützlich sind auch alle möglichen Yogaübungen. Auch ohne große Vorkenntnisse lassen sich z. B. gewisse Atemübungen schnell erlernen. Bei relativ normalen Haftbedingungen, wenn du also andere Gefangene treffen kannst, Freizeit, Fernsehen etc. laufen, bist du zwar auch nicht viel weniger Zeit allein - immer noch 20 bis 22 Stunden - aber die Zeit, mit sinnvoller Beschäfti­gung ausgefüllt, vergeht ungleich schneller.

Ein anderer Selbsterfahrungsbericht:

Man versumpft, wenn man tagelang nur liest und monatelang nur die Zeitung, dann den nächsten Krimi, dann weiß ich nicht was für Bücher; dann am Ende von seiner Haftzeit unheimlich viel gelesen hat und was weiß ich für Bauernschläue im Kopf hat, jedes Kreuzworträtsel vorwärts und rückwärts lösen kann - aber gebracht für einen selber hat's wahrscheinlich nicht viel. Ich habe zeitweise versucht, so ein Programm aufzustellen - also meinetwegen morgens die Zeitung lesen, dann einen Brief schreiben, dann irgendwas anderes machen. Das habe ich ziemlich schnell wieder fallengelassen. Ich habe dann einfach immer das gemacht, wo ich zeitweise Lust hatte. Manchmal einen halben Tag nur gelesen, dann wieder zwei Tage gar nicht gelesen. Dann nur geschrieben oder manchmal vier bis fünf Stunden nur am Fenster gesessen und mit jemanden gesprochen oder einfach nur so am Fenster gesessen und rausgeguckt. Man kann hier die oberste Scheibe über der Betonblende ausbauen und morgens wieder so einsetzen, daß es nicht mehr zu sehen ist. Ich habe also stundenlang am Fenster gesessen und über die Blende weggeguckt - zugeguckt wie da Fußball gespielt worden ist, wie die Leute spazierengegangen sind - zugeguckt. Das hat mir eigentlich unheimlich viel gebracht, einfach nur so am Fenster zu sitzen... Und dann zum Beispiel Schreib­hilfe - zum größten Teil habe ich das dann abends auf der Zelle gemacht. Hab mir von den einzelnen Leuten das Aktenzeichen und den Haftbefehl geben lassen, habs mir durchgelesen, hab dann die Briefe geschrieben für den Rechtsanwalt, hab dann meine Zeitungsartikel ausgeschnitten, hab die Mappe zusammengestellt und dann noch so meinen persönlichen Kram - hab also meine Briefe geschrieben. Für die Prozeßvorbereitung habe ich praktisch überhaupt nichts gemacht, weil es mir - als Politischer bin ich im Knast gewesen - viel zu riskant war irgendwelche Unterlagen zu sammeln, weil die einem die ganze Zelle ausgeräumt haben und kein Fitzelchen Papier mehr in der Zeüe gelassen haben. Die nehmen da keine Rücksicht auf Anwaltsunterlagen. Ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich irgend­wann mal Langeweile gehabt habe. Im Gegenteil - ich habe für viele Sachen manchmal keine Zeit mehr gehabt. Der Tag war so ausgefüllt, daß ich nachts noch stundenlang mit Kerze geschrieben habe, oder wenn ich was lesen wollte, daß ich das nachts mit Kerze gemacht habe. So Langeweile - ich weiß nicht, wer ein bißchen was macht in punkto Selbsthilfe, sich mit den Problemen der anderen auseinandersetzt, was ich halt für wichtig halte, um überhaupt überleben zu können da drin, ohne total vereinsamen zu müssen - da kommt man überhaupt nicht in die Verlegenheit, Langeweile zu schieben. Tagebuch führen ist auch was Gutes - so weit es geht in Stichpunkten, wenn man es selber später verwenden will. Mir selber reicht es, zwei Wörter aufzuschreiben, da kann ich ein Jahr oder ein halbes Jahr später noch ne ganze Seite vollschreiben. Nur Stichpunkte aufschreiben, mit denen man nur selber was anfangen kann!

Aus dem Fenster sehen

Die Dinge, die man vom Zellenfenster aus sieht, erscheinen in einer eigenartigen Verfremdung. Sie werden intensiver wahrgenommen als anderes, was man früher gesehen hat. Ich habe eigentlich jede freie Minute am Fenster verbracht und wenn nicht im Gespräch mit Mitgefangenen, so einfach nur den Knasthof beobachtend. Nach einiger Zeit merkte ich, daß.im Knast ganz bestimmte Vögel lebten. So besorgte ich mir aus der Knastbibliothek entsprechende Fachbücher und las alles über eine bestimmte Taubensorte, Turmfalken, Schwarzdrossel usw. und bin über diesen Umweg auf die Verhaltensforschung und dort wieder auf ganz andere Probleme gestoßen; so ging's mir. Bei einem anderen kann's natürlich völlig anders verlau­fen und wird's ganz sicher auch.

Nichtstun

Auch das Nichtstun erfordert Anstrengung, vielleicht mehr Anstrengung als etwas zu tun, weil es einen an die eigenen Gedanken und Erinnerun­gen ausliefert, die mit wachsender Intensität erscheinen. Man sollte es dahin bringen, sich im eigenen Unbewußten, in den Gedanken, in der Vernunft und in den Erinnerungen ein Stück Freiheit zu erobern. Man muß sich daran gewöhnen können, auf dem Bett zu liegen und einfach die Gedanken laufen zu lassen und alles vor sich erscheinen zu lassen, was gewesen ist und worauf man seine Hoffnung setzt.Diese Beispiele zeigen, daß es nur solche Überlebungsstrategien geben kann, die jeder aus sich selbst entwickelt.


4.1. Alleinsein in der Zelle

Das Paradoxe im Knast ist, daß einem weniger körperliche Kraft, als die geistige Anstrengung weiterhelfen kann. Der Widerstand, der aus kör­perlicher Kraft kommt, stößt sofort auf die noch stärkere physische Kraft der Institution und wird unterdrückt. Deswegen sind verfeinerte Formen des Widerstands notwendig. Dazu gehört vor allem, wie man sich selbst widerstandsfähig erhält. Durch physische Anstrengung allein kann man das nicht. Es ist zum Beispiel unmöglich, sich nur durch Gymnastik und Bewegung, Sport wirklich widerstandsfähig zu halten. Und auch durch blinde Aktivität ist das nicht möglich, weil eine solche Aktivität etwas ist, was von der Umgebung gesteuert sein kann. Man braucht mehr als Kraft, man braucht Wissen und eine überlegte Strategie, um der langjährigen Zermürbung durch die Institution zu entgehen und um nicht mit dem eigenen Widerstand ins Leere zu treffen oder sich nur selber damit zu treffen. Was man spontan tun möchte, ist nicht immer das Richtige.

Techniken des Widerstands

Wie man mit der Situation fertig wird, in einer Zeile aliein zu bleiben, das erfordert deswegen viel Konzentration, Überlegung - gerade weil es eine äußerst künstliche Situation ist, die allen natürlichen Instinkten widerspricht. Man kann in der Zelle keine groben Dinge machen – damit wird man sofort auf die Grenzen stossen, die von einzelnen nicht zu durchbrechen sind. Das Alleinsein in der Zelle sollte man deshalb als Gelegenheit betrachten, sich subtilere, feinere Techniken des Wider­stands anzueignen als sie draußen notwendig sind. Man kann alles mögliche machen, womit man sich die Zeit vertreibt, aber das bringt einen auf die Dauer nicht weiter. Man muß versuchen das zu machen, was für das eigene Überleben und das Überleben der andern Gefangenen einen Sinn hat. Es darf nicht lediglich Zeitvertreib sein, oder Vertreibung der Ge­danken. Eine solche Strategie kann darin bestehen, daß man sich zunächst einen Plan für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat usw. macht, zum Beispiel von 8.00 - 9.00 Uhr Zeitung lesen, dann einen Brief schreiben, dann irgendetwas anderes machen. Das sind jedoch nur sehr äußerliche Orientierungshilfen, aber auch sie können nützlich sein. Mit einer umfas­senderen Strategie, die sich auf das ganze eigene Tun bezieht, wird man allerdings eine solche Tageseinteilung nicht mehr brauchen. Dann wird man tun, was man sowieso tun will.

Schreiben

Für die übrigen Tätigkeiten, zum Beispiel das Schreiben, wird man keine Tageseinteilung brauchen. Die Sprache und das Schreiben sind eine Art Ersatz für.Bewegung, Freizügigkeit, Freiheit. Mit der Sprache kann man das kompensieren, was einem an "Leben" draußen fehlt. Man sollte also die Sprache als ein Mittel benutzen, um sich die Realität um einen herum anzueignen. Man wird feststellen, daß man dadurch viel von der Angst, die man vor ihr hat, verliert. Denn man bearbeitet einen Gegenstand, und diese Arbeit macht den Gegenstand schließlich vertraut. Diese Vertrautheit mit dem, was man beschreibt, kann dir sehr helfen. Das gilt natürlich nicht nur für das Schreiben, sondern auch für andere Arten der Realitätsgestaltung,: zum Beispiel Zeichnen. Das Schreiben ist auch ein Ersatz für den andern, der in der Zelle fehlt. Man wird immer versuchen, mit einem andern zu einer menschlichen Beziehung zu kommen, mit einem andern zu sprechen, einen andern zu hören, und wenn es nicht auf die einfache Weise geht, daß man mit dem andern zusammen ist, wird man es über ein Instrument versuchen. Ein banales Instrument ist das Radio, das aber über einen selbst hinwegtönt. Man ist Teilnehmer und doch gleichzeitig ausgeschlossen, man kann nur zuhören. Und um das umzudrehen, um wirklicher Teilnehmer zu sein, fängt man an zu schreiben. In diesem Schreiben ist man beides, nämlich derjenige, der etwas sagt und derjenige, der etwas fragt, der Beobachter und der Beobachtete. Schreiben, nicht wegen irgendweicher literarischer Fähigkeiten, sondern einfach weil es ein Instrument der Verständigung mit sich selbst und der Verständigung mit andern ist.

Der innere Monolog

Ebenso sollte man versuchen, den inneren Monolog, das innere Selbstge­spräch zu vervollkommnen. Man sollte versuchen, dieses Frage- und Antwortspiel der Gedanken soweit zu konzentrieren, daß es ein Gespräch ersetzen kann. Natürlich ersetzt es nie richtige Gespräche, aber es verschafft einem eine innere Stabilität, die man in der Ausgelie­ferten des Gefangenseins notwendig braucht.

Träume

Eine weitere Methode der inneren Stabilisierung ist das Aufschreiben der Träume. Allein durch das ständige Aufschreiben des Geträumten werden die unbewußten Vorgänge, die sich in den Träumen widerspie­geln, zu einem gewissen Teil "aufgearbeitet" und dadurch bewußter. Das Ergebnis kann eine vergrößerte innere Sicherheit und innere Ruhe sein. Auch beim Aufschreiben der Träume hilft nur ständige Übung und Wiederholung. Man wird merken, daß man sich nach einiger Zeit an sehr viele Einzelheiten der Träume erinnern kann.

Chancen des Alleinseins

Auch aus dem Alleinsein in der Zelle kann man einen Teil der Kraft ziehen, die man im Alltag des Gefängnisses braucht (aber auch im Untergrund, dafür gilt dasselbe), Das würde bedeuten, daß man sich in der Zelle darauf vorbereitet, ohne andere auszukommen. Denn das ist die Realität. Wenn man verurteilt ist oder wenn man als politischer Gefangener inhaftiert ist, kann das bedeuten, daß man nicht mehr freikommt. Man ist auf das eigene Ich zurückgeworfen. Es gibt trotz aller Möglichkeiten, im Knast sich mit jemanden anzufreunden, nicht mehr die Möglichkeiten, die es in Freiheit gab. Und außerdem gibt es die Isolation, die nur die Verschärfung des Alieinseins bedeutet, In dieser Situation muß man lernen, mit sich alleine zu leben. Man wird versuchen, alle früheren Erlebnisse in Gedanken zurückzuholen. Aber das ist zunächst nur die Vergangenheit, die irgendwann abstirbt. Um mit der Isolation fertigzuwerden, muß. sich das eigene Denken ständig erneuern. Von der Vergangenheit aHein kann man nicht weiterleben. Und um nicht jener Kommunikation ausgeliefert zu sein, die allein von der Institution bestimmt ist, vom Anstaltsradio und den organisierten "Freizeitgrup­pen", muß man versuchen, ihr das eigene Ich, die eigenen Gedanken entgegenzusetzen. Das ist so wichtig, daß man solche Methoden zum Überleben entwickeln sollte - auch weil die ganze Gewalt der Institution gegen die Wahrnehmung des eigenen Lebens gerichtet ist. Und langfri­stigen Widerstand leisten kann nur, wer sich selbst wahrnimmt. Er wird nicht auf die auferzwungene Orientierung durch die Institution eingehen, er wird sich ihr nicht anpassen. Ein großer Teil des Widerstands besteht darin, wie man mit der Isolation selbst fertig wird, wie man sich selbst dagegen verteidigt. Verteidigen ist an sich etwas, was defensiv ist und als solches einen ungünstigen Platz in der Strategie hat. Wer sich verteidigt, ist bereits halb überwältigt: Man sollte deshalb versuchen, die Isolation positiv aufzufassen, als eine Situation, in der 'auch Sinnvolles - zum Beispiel eine Arbeit, Selbsterfor­schung, eine besondere Form des Widerstands - möglich ist.

Kein allgemeingültiges Rezept

Es gibt sicher sehr unterschiedliche persönliche Wege, mit der Situation des Alleinseins fertig zu werden. Es soll hier nicht versucht werden, ein Generalrezept zu geben, sondern worauf es ankommt ist vielmehr die Technik des überlegten Verhaltens selbst. Die folgenden Erfahrungsbe­richte zeigen die Gegensätzlichkeit von Strategien, aber auch die Ähn­lichkeit in der Gruhdeinstellung, nämlich überhaupt überlegt und pla­nend sich zu verhalten:

Eine sinnvolle Einteilung der Zeit mit allerlei nützlichen Aktivitäten ist besonders in der Totaliso wichtig - um nicht zu sagen: lebensnotwendig. A und O ist ein fester Zeitplan sowie die energische Befolgung desselben. Das fällt manchmal ungeheuer schwer; wer sich aber hängen läßt, ist verloren. Lesen, schreiben sowie malen und bastein sind unter besonderen Umständen enorme Kraftspender. Selbst das blödeste Kreuzworträtsel hat da eine wichtige Funktion. Zum geistigen Beweglichbleiben sind verschiedene Denk- und Ratespiele besonders zu empfeh­len. Solche quasi "vorgekauten" Sachen dürfen aber nicht zum Ersatz für deinen natürlichen Empfindungs- und Einfalisreichtum werden. Zu empfehlen ist auch das Studium einer oder gar mehrerer Sprachen. Von zu vielem sturen Vokabeln­pauken aber ist abzuraten, damit es nicht zur Ersatzhandlung für daS Denken wird. Auch ist die Aufnahmefähigkeit nach einem halben Jahr Totaliso schon ganz schön reduziert. Nach einem Jahr sind schon unheimliche Aussetzer da. Du hast auf einmal fürchterliche Schwierigkeiten, dir einfachste Namen oder Begriffe zu merken, Wenns dir mal ganz dreckig geht: ein Blatt Papier nehmen und in einer Ecke einfach anfangen, was zu malen. Oder was schreiben, was dir einfällt. Das hilft meistens. Am wichtigsten aber ist die sinnvolle Einteilung des endlos erscheinenden Tages, der dir vorkommt, als ob er hundert Stunden lang ist. Je nach Persönlichkeit sollte dabei versucht werden, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen manuellen und geistigen Tätigkeiten zu entwickeln. Bastel irgendwas - und sei's mangels Mög­lichkeit noch so "blödsinnig" - schreib, male, denke, erzähl dir was, studier ein Viech, was die Wand langläuft, gucke in den Spiegel und spiel dir was vor, zieh Grimassen, erzähl dir was, lache, weine - aber hänge nicht rum! Beobachte dich selbst, denk über dich selbst nach. Studiere deinen Körper, flechte dir Zöpfe, onaniere - aber laß nicht zu, daß sich deine Seele, dein Geist von deinem Körper trennt (durch unsinniges Dauergrübeln oder auf der anderen Seite durch geistiges Abschalten, in dem du irgendwas mechanisches machst). Mit der Iso wollen sie dich kaputtmachen - laß es nicht zu! Und klar: körperliches Fitnesstratning. Sehr nützlich sind auch alle möglichen Yogaübungen. Auch ohne große Vorkenntnisse lassen sich z. B. gewisse Atemübungen schnell erlernen. Bei relativ normalen Haftbedingungen, wenn du also andere Gefangene treffen kannst, Freizeit, Fernsehen etc. laufen, bist du zwar auch nicht viel weniger Zeit allein - immer noch 20 bis 22 Stunden - aber die Zeit, mit sinnvoller Beschäfti­gung ausgefüllt, vergeht ungleich schneller.

Ein anderer Selbsterfahrungsbericht:

Man versumpft, wenn man tagelang nur liest und monatelang nur die Zeitung, dann den nächsten Krimi, dann weiß ich nicht was für Bücher; dann am Ende von seiner Haftzeit unheimlich viel gelesen hat und was weiß ich für Bauernschläue im Kopf hat, jedes Kreuzworträtsel vorwärts und rückwärts lösen kann - aber gebracht für einen selber hat's wahrscheinlich nicht viel. Ich habe zeitweise versucht, so ein Programm aufzustellen - also meinetwegen morgens die Zeitung lesen, dann einen Brief schreiben, dann irgendwas anderes machen. Das habe ich ziemlich schnell wieder fallengelassen. Ich habe dann einfach immer das gemacht, wo ich zeitweise Lust hatte. Manchmal einen halben Tag nur gelesen, dann wieder zwei Tage gar nicht gelesen. Dann nur geschrieben oder manchmal vier bis fünf Stunden nur am Fenster gesessen und mit jemanden gesprochen oder einfach nur so am Fenster gesessen und rausgeguckt. Man kann hier die oberste Scheibe über der Betonblende ausbauen und morgens wieder so einsetzen, daß es nicht mehr zu sehen ist. Ich habe also stundenlang am Fenster gesessen und über die Blende weggeguckt - zugeguckt wie da Fußball gespielt worden ist, wie die Leute spazierengegangen sind - zugeguckt. Das hat mir eigentlich unheimlich viel gebracht, einfach nur so am Fenster zu sitzen... Und dann zum Beispiel Schreib­hilfe - zum größten Teil habe ich das dann abends auf der Zelle gemacht. Hab mir von den einzelnen Leuten das Aktenzeichen und den Haftbefehl geben lassen, habs mir durchgelesen, hab dann die Briefe geschrieben für den Rechtsanwalt, hab dann meine Zeitungsartikel ausgeschnitten, hab die Mappe zusammengestellt und dann noch so meinen persönlichen Kram - hab also meine Briefe geschrieben. Für die Prozeßvorbereitung habe ich praktisch überhaupt nichts gemacht, weil es mir - als Politischer bin ich im Knast gewesen - viel zu riskant war irgendwelche Unterlagen zu sammeln, weil die einem die ganze Zelle ausgeräumt haben und kein Fitzelchen Papier mehr in der Zeüe gelassen haben. Die nehmen da keine Rücksicht auf Anwaltsunterlagen. Ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich irgend­wann mal Langeweile gehabt habe. Im Gegenteil - ich habe für viele Sachen manchmal keine Zeit mehr gehabt. Der Tag war so ausgefüllt, daß ich nachts noch stundenlang mit Kerze geschrieben habe, oder wenn ich was lesen wollte, daß ich das nachts mit Kerze gemacht habe. So Langeweile - ich weiß nicht, wer ein bißchen was macht in punkto Selbsthilfe, sich mit den Problemen der anderen auseinandersetzt, was ich halt für wichtig halte, um überhaupt überleben zu können da drin, ohne total vereinsamen zu müssen - da kommt man überhaupt nicht in die Verlegenheit, Langeweile zu schieben. Tagebuch führen ist auch was Gutes - so weit es geht in Stichpunkten, wenn man es selber später verwenden will. Mir selber reicht es, zwei Wörter aufzuschreiben, da kann ich ein Jahr oder ein halbes Jahr später noch ne ganze Seite vollschreiben. Nur Stichpunkte aufschreiben, mit denen man nur selber was anfangen kann!

Aus dem Fenster sehen

Die Dinge, die man vom Zellenfenster aus sieht, erscheinen in einer eigenartigen Verfremdung. Sie werden intensiver wahrgenommen als anderes, was man früher gesehen hat. Ich habe eigentlich jede freie Minute am Fenster verbracht und wenn nicht im Gespräch mit Mitgefangenen, so einfach nur den Knasthof beobachtend. Nach einiger Zeit merkte ich, daß.im Knast ganz bestimmte Vögel lebten. So besorgte ich mir aus der Knastbibliothek entsprechende Fachbücher und las alles über eine bestimmte Taubensorte, Turmfalken, Schwarzdrossel usw. und bin über diesen Umweg auf die Verhaltensforschung und dort wieder auf ganz andere Probleme gestoßen; so ging's mir. Bei einem anderen kann's natürlich völlig anders verlau­fen und wird's ganz sicher auch.

Nichtstun

Auch das Nichtstun erfordert Anstrengung, vielleicht mehr Anstrengung als etwas zu tun, weil es einen an die eigenen Gedanken und Erinnerun­gen ausliefert, die mit wachsender Intensität erscheinen. Man sollte es dahin bringen, sich im eigenen Unbewußten, in den Gedanken, in der Vernunft und in den Erinnerungen ein Stück Freiheit zu erobern. Man muß sich daran gewöhnen können, auf dem Bett zu liegen und einfach die Gedanken laufen zu lassen und alles vor sich erscheinen zu lassen, was gewesen ist und worauf man seine Hoffnung setzt.Diese Beispiele zeigen, daß es nur solche Überlebungsstrategien geben kann, die jeder aus sich selbst entwickelt.


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